Die meisten Stimmen bei meiner kleinen Neujahrsumfrage wünschten sich, etwas darüber zu lesen, ob man ohne Auto zum Außenseiter wird. (Jedenfalls zuerst. Inzwischen hat die Infrastruktur fürs Radeln und Zu-Fuß-Gehen aufgeholt – die kommt dann als nächstes dran.)
Vielen Dank an alle, bisher mitgemacht haben! 🥰 (Die Umfrage läuft weiter, ihr könnt euch gerne jederzeit noch Themen wünschen – dort oder per Mail oder per Kommentar unter einem Beitrag. 😉)
Also: Wird man ohne Auto zum Außenseiter?
Meine einfache, wenn auch nicht schöne, Antwort ist: Ja.
Fühlt man sich als Außenseiter?
Ja, absolut. Man erlebt es ja jeden Tag: Jeder hat ein Auto, jeder fährt überall hin mit dem Auto. Kaum jemand macht sich Gedanken darüber, und man ist bei einigen Veranstaltungen und Unternehmungen komplett außen vor. Zum Beispiel, wenn zu einem bestimmten Ort keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren, einem ein Taxi zu teuer ist und man inzwischen zu wenig Fahrpraxis hat, um sich ein Auto bei Bekannten oder bei einem Carsharing-Dienst zu leihen. Dann bleibt einem im Freundeskreis oder bei Ausflügen mit der Schulklasse oder den Kollegen höchstens noch zu fragen, ob man von jemandem mitgenommen werden kann oder ob man sich nicht woanders treffen oder etwas anderes unternehmen könnte.
Dieses Gefühl trifft vor allem die Kinder. Besonders Kind 1 (inzwischen fast 14) fühlt sich als Außenseiterin in ihrer Klasse. Es ist ihr peinlich, wenn jemand fragt, ob die Eltern sie (und andere) irgendwo abholen oder hinbringen können. Sie fühlt sich schlecht, weil die meisten ein Auto haben, aber ihre Familie nicht.
Das hängt allerdings nicht am Auto an sich. Man fühlt sich ja als Außenseiter – insbesondere als Teenager natürlich –, wenn man mit egal was aus der Reihe tanzt, also auch, wenn man zum Beispiel kein Handy hat, während die allermeisten eins haben.
Es kommt auch darauf an, wie alltäglich und sozial akzeptiert es ist, was einen anders macht. Neulich sagte eine Psychologin im Radio zum Thema Fastenzeit, man solle lieber Zucker fasten als Alkohol. Das sei wahrscheinlich gesünder („40 Tage ohne Alkohol bringen der Leber nix.“), vor allem aber sei auf Alkohol zu verzichten sozial weniger akzeptiert.
Was ist sozial akzeptiert?
Ein kleiner Lichtblick für den Klimaschutz: Für Veganer und Vegetarier scheint sich das Blatt inzwischen gewendet zu haben. Aber es ist noch längst nicht normal oder auch nur halbwegs alltäglich, dass eine Familie kein Auto vor der Tür stehen hat, jedenfalls nicht in einer eher kleinen Stadt wie Bingen.
An sich ist das Zurechtkommen ohne Auto kein Problem. Jedenfalls in den meisten Fällen kein unüberwindliches, wenn man entsprechend mehr zeitlichen und finanziellen Aufwand und Unbequemlichkeit in Kauf nimmt. Eigentlich…
Das Problem, das vor allem bei Kind 1 dieses Gefühl auslöst, dieses Außenseiter- oder vielleicht sogar Schmarotzer-Gefühl, ist, dass die anderen eben nicht mitmachen.
„Alle anderen fahren überall mit dem Auto hin!“
Das geht schneller. Das ist bequemer. Und viele Eltern wollen es ihren Kindern auch nicht zumuten oder denken, die Kinder können das gar nicht, so allein mit dem Zug oder mit dem Bus oder gar mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Das heißt, die Kinder werden mit dem Auto – Stichwort Mamataxi – zu ihren Verabredungen, Terminen und Vereinen kutschiert.
Wenn Kind 1 zum Beispiel mit einer Freundin eine andere Freundin besuchen möchte, und bei der einen Freundin mitfährt, weil das Mamataxi auf dem Weg ja sowieso bei uns vorbei kommt, dann stellt sich bei Kind 1 ein blödes Gefühl ein. Sie kann dieses Mitnehmen ja nicht erwidern, zumindest nicht mit dem gleichen Komfort. Sie hat auch schon ihre Freundinnen überredet, mal mit ihr zusammen Zug zu fahren, aber das ist natürlich etwas anderes, als ebenfalls einen Chauffeurservice anzubieten. Es fühlt sich nicht gleichwertig an. Und solange es einfach normal ist, dass jede Familie mindestens ein Auto hat, wird es vermutlich auch von anderen nicht als gleichwertig empfunden.
Wird man von anderen als Außenseiter betrachtet?
Dieses Beispiel sagt noch nichts darüber aus, was Freunde und Bekannte über unsere Autofrei-Familie denken, selbst wenn sie das Gefühl der Ungleichwertigkeit beim Anbieten von Mitfahrgelegenheiten teilen.
Über die Freundinnen von Kind 1 kann ich nur spekulieren, aber Freundinnen von mir, die ich direkt auf das Thema angesprochen habe, sagten mir, dass sie es eigentlich bewundern, was wir machen. Dass sie es toll fänden, wenn sie es selber auch schaffen würden, im Alltag ohne Auto klarzukommen und all das auf sich zu nehmen: den Aufwand, die Unbequemlichkeit, die Nerven, die Zeit und das Geld – eben was das Unterwegssein zu Fuß, per Fahrrad und im öffentlichen Nah- und Fernverkehr so mit sich bringt.
(Wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob es wirklich mehr Geld in der Gesamtrechnung ist, was man ohne Auto so ausgibt. Dazu schreibe ich vielleicht ein andermal einen Beitrag.)
Jedenfalls: So lange Autofahren zugleich die bequemste UND die in der Alltagswahrnehmung billigste Alternative der Mobilität bleibt, wird es nicht zur Norm werden, darauf zu verzichten.
Und so lange es nicht normaler wird, sprich: solange sich nicht deutlich mehr Menschen für die klimafreundlicheren Arten der Fortbewegung entscheiden, wird man wohl ohne Auto weiterhin vielleicht bewundert, aber sich doch als Außenseiter fühlen.
Danke für den Beitrag, den ich fast uneingeschränkt teilen kann (nur der Kostenaspekt wäre genauer zu erörtern)! Auch ich bin eine Außenseiterin ohne eigenes Auto. Bisher komme ich sogar in Bingen zu Fuß, mit Rad und Öffis zurecht, wobei ich die Möglichkeit habe und nutze, mir bei Bedarf im Familienkreis ein Auto zu leihen. In den meisten Fällen nur, damit ich Elterntaxi spielen kann und sich mein Kind nicht ganz so als Opfer ihrer seltsamen Mutter fühlt. Meine Motivation: Ich will beweisen, dass es geht ohne eigenes Auto. Meistens. Aus Überzeugung für das Klima, für weniger Lärm und Flächenverbrauch. Solange es Menschen gibt, die ohnehin Auto fahren, frage ich ohne schlechtes Gewissen, ob sie mich oder meine Tochter hier und da mitnehmen. Für die Zukunft wünsche ich mir eine Carsharingflotte in Bingen, damit ich auch dann noch ohne eigenes Auto leben kann, wenn ich nicht mehr so gut zu Fuß und mit Rad mobil bin.
Ja, dieses Beweisen Wollen schwingt bei mir auch oft mit. Und sei es nur vor mir selbst. Autos zu teilen, sei es im Familienkreis oder per kommunalem oder kommerziellem Carsharing, wird hoffentlich (wieder) viel mehr kommen. Ich hab dabei inzwischen allerdings das Problem, dass ich so lange keine Fahrpraxis mehr hatte, dass ich erstmal wieder einige Zeit üben müsste, ehe ich mich wieder sicher hinter dem Steuer fühlen würde.
Ich bin da wie deine Freundinnen: Ich bewundere, habe aber trotzdem ein Auto (also unsere Familie hat eins, und das brauchen wir unbedingt zum Überleben, gefühlt zumindest). Meine volljährigen Kinder haben keinen Führerschein gemacht, und das ist wohl die sicherste Art, sich vor dem Auto zu beschützen. Ich hoffe sehr, dass die Öffentlichen mehr ausgebaut und zB hundefreundlicher gestaltet werden, dass ich mich traue, unser Auto abzuschaffen.
Ja, das höre ich auch immer mehr, dass jüngere Leute, vor allem in Städten, gar keinen Führerschein mehr machen. Bin gespannt, wie das meine Kinder mal halten werden.
„Sich vor dem Auto beschützen“ – das trifft es sehr gut!